Snapchat – die Zeitung von morgen?

Professorin Dr. Marie Elisabeth Müller ist Expertin im Bereich multimediales Storytelling mit mobilen Geräten und lehrt im Studiengang Online-Medien-Management an der Hochschule der Medien. Aktuell beschäftigt sie sich mit innovativen Journalismus- und Multiplattform-Kommunikations-Methoden für Snapchat – ein Themengebiet, welches weltweit erst von wenigen Professoren angeboten wird. Frau Prof. Dr. Müller erkannte, dass Snapchat-Stories zum Werkzeugkasten eines Reporters gehören und auch qualitativ gesnappt werden kann. Ist Snapchat also die zukünftige Plattform für Nachrichten oder doch nur für Geschichten?

Letztes Semester verbrachte Prof. Dr. Müller drei Wochen in den USA an der Syracuse University, um journalistischen Methoden zu lehren. Das Social-Media-Team hat sie dazu interviewt, wie genau Journalismus auf Snapchat aussieht und welche Erfahrungen sie an der amerikanischen Partnerhochschule gemacht hat.

 

Frau Müller, schön, dass Sie sich Zeit genommen haben. Können Sie zum Einstieg erläutern, wie die Idee entstanden ist, Journalismus über Snapchat zu betreiben?

Journalisten, Newsrooms und Medienhäuser entwickeln seit einigen wenigen Jahren Methoden, um Inhalte für alle Plattformen zu veröffentlichen und crossmediale Effekte zu erzielen. Warum? Weil unsere User dort sind, wir fragmentierte und diverse Zielgruppen erreichen wollen und wirtschaftlich selbstverständlich auch müssen.

Snapchat verfolgt eine klare Publisher-Strategie. Man kann auf der Plattform beispielsweise viel tiefergehende und längere Textstrecken veröffentlichen als auf Instagram. Außerdem ist Snapchat in den USA die wichtigste Nachrichtenplattform unter jungen Nutzern zwischen 16 und 24. Snapchat bietet für Journalisten und journalistische Storyteller innovative und sehr spannende Produktionstools und ist auch als Publikationskanal interessant.

 

Wie sehen journalistische Methoden aus und wie funktioniert Journalismus auf Snapchat?

Snapchat hat das Social TV erfunden. Jetzt ist Social TV als Stories auf allen Plattformen das erfolgreichste Contentformat, sowohl live, als auch vorproduziert. Snapchat hat mobile Augmented-Reality (AR) Filter und Inhalte – sprich audiovisuelle Inhalte, die als 3D-Animation über unsere physische Welt gelegt und mit dem Smartphone rezipiert und produziert werden können – als erste Plattform und als Content-Methode für alle zugänglich gemacht. Für Journalisten sind AR Filter auch interessant, um die Identität von Gesprächspartnern zu schützen.

Journalisten auf Snapchat recherchieren maßgeblich über Funktionen wie Discover, Maps und Stories, welche die Plattform bietet. Als Storyteller ist Snapchat für mich ein herausragendes Beispiel für innovative Content-Strategien, sozusagen Innovationtelling. Journalistische Storyteller müssen immer wieder neu herausfinden, wie neue Tools und Methoden für ernsthafte und glaubwürdige Informationen und Geschichten genutzt werden können, auch wenn diese Tools initial für ganz andere Zwecke entwickelt werden.

Innovationtelling ist ein Wesensmerkmal digitaler Innovation: Apple und Snapchat machen es vor. Sie stellen Nutzern extrem gute Hardware und auch Software zur Verfügung. Wichtige Use Cases werden dann von Nutzern entwickelt und anschließend von den Unternehmen aufgegriffen und weiterentwickelt.

 

Wie schaffen Sie es, eine hohe Beitragsqualität zu gewährleisten, wenn Sie das Medium Snapchat benutzen?

Die grundlegenden journalistischen Qualitätskriterien und Methoden gelten auch für Snapchat. Neu ist die Schlüsselkompetenz: Komplexes Wissen und Informationen kurz und zum Nachdenken anregend multimedial zu produzieren. Wir arbeiten im Digitalen mit fragmentierten Produkten auf einer fragmentierten, indefiniten Zeitachse. Die kurzen Story-Formate erfordern eine neue Methode des Storytellings “stories in nutshells”.

 

Wie wird sich der mobile Journalismus Ihrer Meinung nach in Zukunft entwickeln?

Mit 5G wird der mobile Journalismus mit dem Internet of Things vernetzt. Wir werden zunehmend zu Mixed-Reality-Gläsern übergehen.

 

Wird Snapchat in Syracuse anders genutzt als in Stuttgart?

Ja, klar. Die studentische Nachrichtenredaktion der Syracuse University “The Daily Orange” ist als Herausgeber auf Discover – allerdings im Netz abgegrenzt. Sie können das nur in Syracuse nutzen. Die machen klasse Stories, eine Mischung aus Live-Interviews und informativen Berichten.

 

Welche Erfahrungen haben Sie als Dozentin im Austausch mit den Studierenden an der Syracuse University gemacht?

Die Studierenden sind alle sehr respektvoll, engagiert, lebhaft und motiviert. Das Studium ist kostspielig und alle wollen das Beste daraus machen. Ich kann mich auf meine breite Arbeitserfahrung in den USA, genauso wie im deutschsprachigen Raum, in Europa, Indien und Afrika verlassen – daher fällt es mir sehr leicht, mit unterschiedlichen Gruppen zu arbeiten.

Mir hat die Gastprofessur allergrößte Freude gemacht. Die Kollegen und Kolleginnen sind in Diversität geschult und sehr innovationsfreudig, sie und die Studierenden waren neugierig auf meine Lehre, weil dieses Gebiet erst von wenigen weltweit angeboten wird, und sie alle haben mir sehr positives und ermutigendes Feedback auf meine Methoden und Inhalte gegeben.

 

Das Redaktionsteam dankt Frau Prof. Dr. Müller für das Gespräch und den interessanten Einblick in ihre Arbeit. Das Interview offenbart uns: Snapchat ist weltweit im Wandel und aktuell wieder dabei, einen innovativen Schritt zu machen: Als Kommunikations-App mit prägnanten und aktuellen Nachrichten. Dass Stories nicht mehr nur ein Tool für private Geschichten ist, zeigt die vermehrte Nutzung der Stories für informative Vermittlungszecke wie Nachrichten und journalistisch aufbereitete Inhalte.

Wer anfangs noch dachte, Snapchat sei überholt worden, könnte in nächster Zeit noch eine große Überraschung erwarten.

/Julian Sauer

Bildcredits: Prof. Dr. Müller, Titelbild: Tim Rieger