Erfolgreich im digitalen Mobile Ecosystem

Von Futuristen lernen

Am Anfang des 20. Jahrhunderts waren viele Forscherinnen und Forscher zuversichtlich, dass alle Menschen in Zukunft von technologischen Innovationen profitieren können würden. In Futurism konnte man kürzlich ihre Voraussagen nachlesen, dass Menschen zukünftig weltweit kabellos Informationen und sich selbst in fliegenden Autos (“Helicars”) fortbewegen würden, und auch, dass wir fossile Energien zugunsten nachhaltiger Energiekonzepte würden aufgeben müssen, um das Klima der Erde zu schützen.

In die Vergangenheit zurück zu schauen, hilft dabei, unsere Gegenwart und Zukunft besser zu verstehen. Allen Zeiten gemein bleibt, dass Innovationen anfangs belächelt und von Industrien und Nutzerinnen und Nutzer in unterschiedlichen Geschwindigkeiten adaptiert werden.

“Wer innovativ arbeitet, muss es aushalten, in einem Raum voller Leute als der größte Depp da zu stehen”,

so formulierte es einmal mein Kollege Dipl.-Ing. Christian Kubis, der das Innovationsmanagement im Unternehmen “Festo“ in Scharnhausen aufgebaut hat und leitet.

Manchmal denke ich mit verschmitztem Lächeln daran. Denn seitdem ich in meinen Seminaren “Mobile Kommunikation” unterrichte und wir mit Smartphones und innovativen Technologien arbeiten, trage ich es mit Fassung,  wenn mir zu Beginn des Semesters einige Studierende zunächst verwundert begegnen. Auch wenn einige Journalistinnen und Journalisten, Redaktionen und Agenturen weltweit schon seit mehr als 20 Jahren mit Mobiltelephonen und seit 10 Jahren mit Smartphones Geschichten und Content produzieren.

Mobile erfordert ein immersives Multi-Plattform Mind-Set

In meinen Seminaren in OMM arbeiten wir mit dem Asian College of Journalism in Chennai zusammen und mit Professor Devadas Rajaram, der seit 1998 als Mobile Journalist gearbeitet hat, anfangs für “Info2Cell” in Dubai. BBC Media Action, BBC Three und AsiaNet News in Kerala tun das seit 2016. Die Journalistin Eleanor Mannion und ihr Team produzierten 2016 für den irischen Broadcaster RTÉ den ersten langen Dokumentarfilm The Collectors, aufgenommen allein mit Smartphones, anschließend mit browser-basierter Software produziert.

Mobile Kommunikation ist für die Medienindustrie weltweit wie ein Quantensprung, der unbequeme und ungewisse Veränderungen mit sich bringt. Darin verbirgt sich ein komplett neues und fragmentiertes digitales Ecosystem, das sich am Nutzen für User und an qualitätsvollen Lösungen mit user-transformativen Technologien orientiert. Das Ziel ist erreicht, wenn Nutzerinnen und Nutzer unsere Geschichten nahtlos und intuitiv nutzen, ohne die Technologie dahinter wahrzunehmen. Auf den ersten Blick wirken Smartphones selbst wie einfach zu bedienende Spielkonsolen im Hosentaschenformat. Doch wodurch entwickeln mobile Geräte ihre universale Attraktivität und Wirkung für Milliarden von Menschen weltweit?

Mobile Geräte sind konvergente Veröffentlichungs- und Distributionswerkzeuge, sie entsprechen heute einer hochwertigen Live-Übertragung, einer TV Kamera, einem Radio Mischpult, einem Audio- und Video-Postproduktionsstudio, einem Podcast Studio, einem Kreativstudio für multi-mediale und interaktive Datenvisualisierungen und Longform-Stories sowie immersive Erzählschichten mit mobiler immersiver Augmented Reality und Mixed Reality Technologie.

Im Widerspruch zu mobilen Geräten, die nicht allein technisch mobile und konvergente Geräte sind, sondern ein immersives Multi-Plattform Mind-Set voraussetzen, sind bis heute auch viele junge Studierende und sogenannte “Digital Natives” im deutschsprachigen Raum gewohnt, in Ressourcen-aufwändigen und technologischen High-end Lösungen zu denken.

Ironischerweise machen umgekehrt aber auch engagierte Studierende bei der Arbeit mit dem Smartphone die Erfahrung, dass sie nicht auf Anhieb ernst genommen werden. Erst vor kurzem wurde ein studentisches Team beim Filmen mit Smartphones aus einem Arbeitsraum an der Hochschule hinauskomplimentiert, unter anderem da es angeblich “ohne Video Equipment” angetroffen worden war. Aktuelle Forschung bestätigt, dass Smartphones von vielen Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern zwar akzeptiert werden und eine unmittelbare Nähe und Informelle Konversation ermöglichen, jedoch gleichzeitig bis jetzt nicht als hochwertige Medien ernst genommen werden. Meine britische Kollegin Corinne Podger erklärte kürzlich, sobald ihre Studierende das Smartphone mit einem Handle, Tripod oder Gimble ausstatten, werden die mobilen Geräte jedoch sofort als hochwertiges Equipment akzeptiert.

 

Mobile ist ein Quantensprung in der Medienindustrie

Weltweit setzt sich smarte Mobile Kommunikation schon seit 2008 aufseiten der Nutzerinnen und Nutzer zunehmend durch. Wie insgesamt in der digitalen Infrastruktur ist Deutschland auch hier im internationalen Vergleich extrem langsam bei der Adaption innovativer digitaler mobiler Technologien.

Doch während innovative technologische Erfindungen wie Druck oder kinematographischer Film über viele Jahrhunderte und Jahrzehnte entwickelt und verbessert worden sind, ist seit Gründung von “YouTube” 2007 und anderer globaler sozialer Plattformen die Innovations-geschwindigkeit – die Zeit, in der beispielsweise eine neue Software oder App entwickelt und marktfähig wird – auf sechs bis zwölf Monate geschrumpft.

Es gilt also, zeitgleich zur technologischen Weiterentwicklung in der Industrie, in unseren Bildungseinrichtungen und unseren Gesellschaften ganz neue Kompetenzen, Strategien und Analytics zu entwickeln. Zahlen von 2017, wie Nutzer weltweit Nachrichten und Informationen abrufen (siehe zum Beispiel jährlich Reuters Digital News Report, der auch länderspezifische Daten bereit stellt, oder We are social – Global Overview Digital in 2017), und inwiefern Werbeausgaben zunehmend in Mobile Formate fließen (siehe zum Beispiel halbjährlich Mary Meeker’s Internet Trends Report) legen folgende Gleichung nahe:

“Internet” = “Online” = “Social Media” = “Mobile”.

In 2017 nutzen mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung, fast 4 Milliarden Nutzer, Smartphones, davon mehr als 3.5 Milliarden, um Inhalte in Sozialen Medien zu nutzen. Auch das Stuttgarter Produktionsteam der internationalen Agentur “fischerAppelt”, ein Kooperationspartner von OMM, produziert seit 2016 Social Videos teilweise nur mit Smartphones aufgenommen, und baut seit 2017 – mit Unterstützung unseres OMM Alumnus Felix Bell – eine “VR Unit” auf.

Zeitgleich mit der zunehmenden Dominanz von Mobile Kommunikation nimmt die Nutzung von “Smart Wearables” in Verbindung mit dem “Internet of Things” zu, das in wenigen Jahren die Mobile Technologie ablösen wird.

Angesichts dieser Zeitachse ist es dringend notwendig, dass wir uns intensiv mit der veränderten Medienwelt und dem notwendigen Veränderungsmanagement in Mobile Kommunikation und Mobile Technologie auseinandersetzen und Wirkungsweisen und Nutzen im Online-Medien-Management (OMM) verstehen und weiterentwickeln.

Das tun meine Kolleginnen und Kollegen mit unseren Studierenden im gleichnamigen Studiengang OMM in vielen unserer Module. In meinen Seminaren untersuchen und erlernen wir schwerpunktmäßig Strategien und Kompetenzen für erfolgreiche Content Produzenten im digitalen Mobile Ecosystem.

 

Erfolgreich im digitalen Mobile Ecosystem

Im Mobile Ecosystem arbeiten wir innerhalb eines fragmentierten Medienmarkts, mit einer fragmentierten Nutzerschaft in vielen kleinen Nischen, mit einer fragmentierten Produktpalette, mit fragmentierten Distributionskanälen und einem neuen Zugang zu “big data”, die als Algorithmen und Data Analytics neue digitale Wertschöpfungsmodelle instrumentalisieren.

Mobile produzierte Inhalte sind perfekt für Medienformate auf sozialen Plattformen konfiguriert, weil sie schnell, live oder in real-time für den Smartphone Bildschirm produziert und passend zum Nutzerverhalten von unterwegs genutzt werden können. Aber auch lange Formate können mit mehr Zeit mobile-affin produziert und erfolgreich veröffentlicht werden.

Auch Kompetenzen und Workflows in Content Produktion und Kommunikation haben sich komplett verändert, dabei ausgerichtet in zunehmendem Maße an interdisziplinären und internationalen Teams. Medienunternehmen und Content Distribution ohne internationale Attraktivität und mehrsprachige Verwertung unterliegen einem enormen Wettbewerbsnachteil. Große Medienhäuser – wie die New York Times oder The Guardian – erwirtschaften mehr als 30% ihrer Einnahmen weltweit, von den großen sozialen Plattformen ganz abgesehen.

Sich international zu orientieren, ist nicht ‘größenwahnsinnig’, sondern entspricht der digitalen mobilen Matrix unserer Medienwelt, in der jede und alles nur einen Finger-Tap auf dem Smartphone in der Jacken- oder Hosentasche entfernt sind. 2018 sagen Trendforscher voraus, dass Mobile das neue TV wird, auf den Plattformen wie Facebook, Insta und Snapchat, die bereits heute exklusive mobile Kamera- und Live-Produktionsplattformen sind und die Transformation in Soziale AR Plattformen vorbereiten.

 

Journalistische Kernkompetenzen sind so wertvoll wie nie

Journalistinnen und Journalisten sind darin geübt, erfolgreiche Produkte zu entwickeln, die Informationen anschaulich transportieren und Nutzerinnen und Nutzer erreichen. Die neuen Schlüsselkompetenzen im digitalen Mobile Ecosystem sind eng verknüpft mit journalistischen Kernkompetenzen, insbesondere mit diesen drei Fähigkeiten: Gezielt und aktiv zuzuhören, auf Nutzerinnen und Nutzer zuzugehen, ihre Bedürfnisse zu verstehen und sich gegenseitig zu engagieren. Schnell und agil neue Workflows und innovative technologische Lösungen zu verstehen, anzuwenden und zu adaptieren. Alle Inhalte in Geschichten zu erzählen; in gut recherchierten, verifizierten und authentischen, visualisierten, interaktiven und packend erzählten Geschichten.

Häufig heißt Content in unserer Wissensgesellschaft heute, komplexes Wissen und komplexe Geschichten kurz und treffend zu erzählen, “knowledge in a nutshell”. Gleichzeitig entpuppen sich wahre Geschichten und Live-Geschichten als die wertvollste “social currency”, soziale Währung.

Journalistisch erprobte Methoden der Verifikation und des Storytellings sind heute für alle Organisationen und Unternehmen wertvoll – und sie können erlernt und müssen ins Digitale transponiert und erweitert werden.

Nachrichten, Produkte, Marken – alle Inhalte müssen heute erfolgreich über alle Plattformen hinweg kommuniziert werden, um die potentiell größtmögliche und diversifizierte Nutzerschaft zu erreichen. Organisationen, Unternehmen und Personen setzen sich heute deshalb alle gleichermaßen damit auseinander, wie sie Inhalte und Produkte erfolgreich digital kommunizieren: visuell, interaktiv, live, multi-medial über viele verschiedene Plattformen. Inhalte werden auf einer langen Zeitachse geplant und publiziert; erst kurze Formate wie Videos für Soziale Plattformen, gefolgt von längeren und langen Formaten wie Interaktiven Datenvisualisierungen und multi-medialen immersiven Blogs.

Digitale Journalistinnen und Journalisten und Nachrichtenredaktionen waren und sind Innovationsmotoren für die Entwicklung erfolgreicher Content Strategien und kompletter Lösungen für neue agile Workflows, Monetarisierungsmodelle und Distributionsmethoden. Auch um auf die Content-Monopole der globalen Technologie-Plattformen weiterhin mit unabhängigen, kritischen Inhalten, Redaktionen und vielleicht zukünftig sogar unabhängigen Plattformen antworten zu können. In meinen Seminaren verstehen wir uns als pro-aktiver Teil dieses aufregenden Prozesses im digitalen Mobile Ecosystem. Für das es, einerseits, kein “Book of Rules”, kein systematisches Manual gibt, und in dem, andererseits, “Big Data”, hier im Sinne von präzisen Daten Analytiken, kontinuierliche Anpassungen ermöglichen, ja, erfordern. Das heißt, “Comfort Zone, ade!”

 

Now Age Storytelling Workshop Dezember 2017

Now Age Storytelling Workshop Dezember 2017, Foto: Prof. Dr. Marie Elisabeth Mueller

Meine Studierenden und ich erforschen, testen, produzieren mit innovativen Methoden, Apps, Softwares. Deshalb vernetzen wir uns von Anfang an auch interdisziplinär mit anderen internationalen Kolleginnen und Kollegen und Studierenden an anderen Hochschulen weltweit, mit denen wir uns austauschen, aber auch gemeinsame Stories und Produkte erstellen. Damit verfolge ich einen integrierten Lehransatz, der das komplexe Mobile Content System in der Industrie in meinen Seminaren bereits praktisch simuliert und anwendet – und vorausschauend weiterentwickelt. Wer mit “Mobile only” arbeitet, bleibt limitiert, wer jedoch Online immer noch ohne Mobile und innovative Technologien versteht, ist hoffnungslos abgehängt. Denn, Zukunft ist jetzt.

 

 

/Prof. Dr. Marie Elisabeth Mueller

Beitragsbild: HdM Stuttgart / Verena Ecker
Weitere Bildquellen: @memplexx / Prof. Dr. Marie Elisabeth Mueller

 


Prof. Dr. Marie Elisabeth Mueller

 

Prof. Dr. Marie Elisabeth Mueller, Foto: Peter Korn-Hornung

Prof. Dr. Marie Elisabeth Mueller, Foto: Peter Korn-Hornung

Prof. Dr. Marie Elisabeth Mueller ist Professorin für Internationales Redaktions- und Kommunikationsmanagement an der Hochschule der Medien in Stuttgart. Sie forscht und lehrt in den Bereichen Innovative Content Strategien und Innovatives multimediales Storytelling mit Smartphone und immersiven Technologien wie Augmented Reality und 360-Grad-Video/Virtual Reality.

Die weitläufig erfahrene Journalistin hat über digitalen Film und Peter Greenaway promoviert. Sie war von 1993 bis 2004 als Redakteurin und Regisseurin bei SWR2 Stuttgart, danach vier Jahre als DAAD-Lektorin an der University of Nairobi, und dann als selbständige Unternehmerin und Dozentin in Berlin tätig. Ihr Buch „Mietek Pemper, Der rettende Weg. Schindlers Liste – die wahre Geschichte“, erschien 2005 bei Hoffmann Und Campe und ist seitdem in zahlreiche Sprachen übersetzt. Sie lehrt seit 2014 an der HdM.

Im Oktober  2017 erschien #Innovationtelling – der erste Band der neuen Reihe “Now Media herausgegeben von Marie Elisabeth Mueller, gemeinsam mit Harald Eichsteller und Devadas Rajaram beim Nomos-Verlag.

Kontakt: Prof. Dr. Marie Elisabeth Mueller
Online-Medien-Management
Hochschule der Medien, Nobelstr. 8, PF 477, DE 70569 Stuttgart
Tel. 0049 177 7467271
E-Mail: muellerma@hdm-stuttgart.de
Social media handle: @memplexx

Persönliche Website: https://www.nowagestorytelling.co